Wenn Kinder Verantwortung tragen, die nicht die ihre ist – Wie Parentifizierung zu tiefer Erschöpfung führt
- Anja Joensson
- 3. Apr.
- 4 Min. Lesezeit

Es gibt eine Form von Erschöpfung, die sich nicht allein durch Ruhe oder Rückzug lösen lässt.
Eine Müdigkeit, die nicht vom Alltag herrührt – sondern von einem Kind, das zu früh erwachsen wurde.
Dieses Kind hat früh gespürt, dass es gebraucht wird – nicht als Kind, sondern als Stütze.
Es wurde zur ruhigen Kraft in einem instabilen System, zur Ordnung im Chaos, zum emotionalen Anker, wo eigentlich jemand anderes hätte Halt geben sollen.
Und heute, viele Jahre später, lebt dieses Kind in einer erwachsenen Frau oder einem erwachsenen Mann weiter – funktional, pflichtbewusst, angepasst.
Doch tief innen sind sie müde.Sehr müde.
Was bedeutet Parentifizierung?
Parentifizierung ist ein Begriff aus der Psychologie und beschreibt eine tiefgreifende Rollenumkehr in der Familie: Das Kind übernimmt – meist unbewusst – elterliche Aufgaben, sei es emotional oder organisatorisch.
Es fühlt sich verantwortlich für das Wohlbefinden, die Stabilität oder sogar das seelische Gleichgewicht seiner Eltern oder Geschwister.
Diese Dynamik entsteht oft in belasteten Familiensystemen:
bei psychischer oder körperlicher Krankheit eines Elternteils,
bei Trennung, Sucht, Überforderung oder emotionaler Vernachlässigung,
oder auch dort, wo Kinder zu sehr „gelobt“ werden, weil sie funktionieren, anstatt dass ihre kindlichen Bedürfnisse gesehen werden.
Parentifizierte Kinder entwickeln früh ein Gespür für andere – und verlieren sich dabei selbst.
Sie stellen sich nicht die Frage:
Was brauche ich?
Sondern: Was braucht Mama? Wie geht es Papa? Wie kann ich helfen?
Und dieses dauerhafte Sich-zurücknehmen hat Folgen – körperlich, emotional, biografisch.
Parentifizierung kann jedes Kind treffen – doch sie zeigt sich unterschiedlich
Jungen und Mädchen können gleichermaßen betroffen sein. Doch die Rollen, die sie übernehmen, unterscheiden sich oft – je nachdem, wie in ihrer Familie über Erwartungen, Nähe und Stärke gesprochen (oder nicht gesprochen) wurde.
Wenn Mädchen zu kleinen Erwachsenen werden
Viele Mädchen werden früh zur „kleinen Großen“. Sie übernehmen Verantwortung, trösten, helfen mit im Haushalt oder sind immer für andere da.

Oft hört man Sätze wie:
„Du bist meine kleine Vertraute.“
„Ich kann mit dir über alles sprechen.“
„Du bist so reif für dein Alter.“
Das klingt wie ein Lob – fühlt sich aber innerlich wie Druck an.
Im Erwachsenenleben zeigen sich bei vielen parentifizierten Frauen:
ständige Selbstüberforderung und Perfektionismus,
chronische Erschöpfung und innere Unruhe,
Schwierigkeiten, eigene Grenzen zu setzen,
Beziehungsprobleme durch übermäßige Anpassung,
hormonelle Dysbalancen, psychosomatische Beschwerden, Schlafprobleme.
Sie kümmern sich weiter – um alle anderen. Nur nicht um sich selbst.

Wenn Jungen zu früh Verantwortung übernehmen
Viele Jungen hören früh Sätze wie:
„Du bist jetzt der Mann im Haus.“
„Du musst auf Mama aufpassen.“
„Ich zähle auf dich.“
Sie spüren: Ich muss stark sein, funktionieren, darf keine Gefühle zeigen. Oft bleiben eigene Ängste und Sorgen unbemerkt – weil der Junge lernt, alles mit sich selbst auszumachen.
Im Erwachsenenleben zeigt sich das dann so:
starker Leistungsdruck, innerer Rückzug,
Schwierigkeiten, Gefühle zu zeigen,
das Gefühl, immer allein durchhalten zu müssen,
körperliche Beschwerden wie Verspannungen, Unruhe oder Schlaflosigkeit.
Sie tragen alles mit sich – leise und nach außen stark.

Wenn die Erschöpfung spricht
Egal ob Mann oder Frau, die Erschöpfung parentifizierter Menschen ist nicht banal. Sie ist ein Ruf des Körpers und der Seele nach etwas, das lange gefehlt hat: Selbstfürsorge. Anerkennung. Sicherheit. Raum für das eigene Ich.
Denn wer als Kind zu viel gegeben hat, verlernt oft, sich selbst etwas zu nehmen. Die Grenzen zwischen „Ich“ und „die anderen“ verschwimmen – und mit ihnen der Zugang zu eigenen Bedürfnissen.
Der Weg zurück zu sich selbst
Heilung beginnt mit einem Satz, der oft lange auf sich warten lässt:
„Es war nicht deine Aufgabe.“
Du warst ein Kind. Du hättest spielen sollen – nicht beschützen. Du hättest getröstet werden sollen – nicht trösten. Du hättest gehalten werden sollen – nicht tragen.
Und heute? Darfst du das alles nachholen.
1. Erkennen und würdigen
Der erste Schritt ist, die eigene Geschichte anzuschauen – mit Mitgefühl statt Schuld. Du hast überlebt, du hast dich angepasst. Und das war stark. Aber heute darfst du neue Wege gehen.
2. Eigene Bedürfnisse wahrnehmen
Viele parentifizierte Menschen wissen gar nicht mehr, was sie selbst brauchen. Es beginnt im Kleinen: Nahrung, Ruhe, Nähe, Raum für sich selbst. Alles, was damals keinen Platz hatte.
3. Grenzen setzen
Du darfst lernen, Nein zu sagen – ohne Schuld. Dich selbst an erste Stelle zu setzen ist keine Schwäche. Es ist Selbstfürsorge.
4. Der Erschöpfung zuhören
Nicht als Makel, sondern als Botschaft. Dein Körper, deine Seele sagen: Ich kann nicht mehr so weitermachen. Und das ist kein Versagen – es ist eine Einladung zur Veränderung.
5. Unterstützung annehmen
Du musst das nicht allein schaffen. Gerade Menschen mit parentifizierter Kindheit glauben oft, dass sie alles allein tragen müssen. Aber du darfst Hilfe annehmen. Du darfst gehalten werden.
Es ist nie zu spät
Nie zu spät, dem Kind in dir das zu geben, was es vermisst hat.
Nie zu spät, Verantwortung zurückzugeben, die nie deine war.
Nie zu spät, dir selbst ein Zuhause zu werden – sicher, frei und voller Mitgefühl.
Du darfst heute leicht sein
Parentifizierung war eine Überlebensstrategie – nie deine Schuld. Doch jetzt darfst du neue Wege gehen. Du darfst heute leicht sein. Du darfst heute „nur“ du sein. Und das reicht. Du darfst das Kind in dir trösten. Du darfst dich selbst versorgen. Und du darfst erkennen:
Du bist genug. Schon immer gewesen. Nicht wegen deiner Leistung, sondern weil du bist.
Und das ist alles, was zählt.
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